Von Gastautorin Mia Bruckmayer
Unsere Kinder kennen alle Gefühle, die die Menschheitsentwicklung begleitet haben. Sie kennen Verbundenheit und Freude, aber auch Unsicherheit, Ärger und das Gefühl der Abhängigkeit. Sie entdecken schrittweise ihre Freiheit, stoßen aber gleichzeitig an die enggesteckten Grenzen ihrer neuen Welt. Kinder stellen fest, dass das Leben ausbremsen kann und die Erwartungen ihrer Umwelt manchmal ganz ungedämpft auf sie zukommen.
Mit der Geburt eines Kindes erfahren Eltern neben Euphorie, Glücksgefühlen und positiver Veränderung auch Einschränkungen, mit denen sie zwar gerechnet haben, aber die sie in der gelebten Realität vor neue Herausforderungen stellen.
“Für einige Eltern beginnt nun ein Ringen um Raum für die eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse.”
Man mag denken, dass die Vereinbarkeit von Beruf, Familie, Partnerschaft und Kind(ern) erst in der heutigen Zeit besonders fordernd sei, doch der Spagat zwischen Individualität und Konformität ist kein Phänomen unserer Zeit. Es hat ihn immer schon gegeben.
Ein Ausflug in die Welt des Urmenschen zeigt, dass Zusammenhalt und Anpassungsfähigkeit essentiell für das Überleben des Einzelnen und der gesamten Gruppe waren. Denn nur wenn sich alle gegen Gefahren, Angst und Unsicherheiten verbündeten, konnte der Fortbestand des Clans gesichert werden. Schon damals musste sich jeder auf jeden (vielleicht sogar noch mehr als heute) verlassen können.
Neuere Forschungsergebnisse zeigen aber auch, dass sich die Menschen schon damals als Individuen sahen, sich verwirklichten und ihren eigenen Vorlieben nachgingen.
Der frühe Mensch ist uns also gar nicht so fremd. Genetisch sind wir immer noch darauf ausgelegt durch Wiesen und Wälder zu streifen. Der einzige Unterschied ist, dass der technische Fortschritt unsere evolutionäre Entwicklung überholt hat.
“Was hat sich also geändert? Das Stresslevel ist signifikant gestiegen! Wir leben schneller und müssen immer mehr in unseren Tag aufnehmen.”
Dass zwei Herzen in unserer (Eltern-)Brust schlagen, eins für uns und eins für die anderen, ist in der Familie als Mikrokosmos besonders deutlich spürbar. In meiner Praxis als systemische Individual-, Paar- und Familientherapeutin, suchen mich immer wieder Eltern auf, deren Bedürfnisse ständig mit den Aufgaben im vollgestopften Alltag kollidieren. Sie versuchen die eigenen Sehnsüchte und ihre Bedürfnisse als Paar in kleine Lücken zu pressen, die zwischen Arbeit, Kinderhüten und all dem Anderen übrig bleiben.
Wie Paare und Familien mit diesen Spannungssituationen umgehen ist sehr individuell und ein allgemeingültiges Rezept gibt es nicht.
Mein 1. Tipp
Benennt eure eigenen Bedürfnisse. Nehmt sie bewusst wahr und sprecht sie bei eurem Partner/ eurer Partnerin an. Anstatt sie in die Abstellkammer unserer ungelebten Wünsche zu verbannen. Das ist wichtig und darf (muss) als Gesprächskultur in Partnerschaften gepflegt werden. Ich bemerke in meinen Paarberatungen, dass schleichend mehr und mehr Zurückhaltung einkehrt, nur um den Partner nicht zu überfordern oder Diskussionen von „wem steht was zu“ zu entkommen.
Mein 2. Tipp
Strukturiert euren Tag. Welche Zeitfresser nagen am Geduldsfaden und sind eigentlich nur noch vorhanden, um Gewohnheit aufrechtzuerhalten? Sinnvoll und wirksam ist, sich mit vertrauten Menschen darüber auszutauschen oder sich Notizen zu machen, um Routinefallen aufzuspüren. So wichtig die internen Stellschrauben sind, so sind es auch die Äußeren.
Mein 3. Tipp
“Im Gespräch mit meinen Klienten fällt mir häufig auf, dass ein krampfhafter Versuch stattfindet, die beiden Lebensentwürfe – die vor der Familie und die danach – miteinander zu vergleichen.”
Wie eine Schablone, die einfach nicht mehr passen mag, arbeiten sich Eltern an alten Bildern ab und übersehen dabei völlig, dass der timetable, das Leistungspensum, die aktive Freizeit oder der Sprung ins Karrierebecken gerade nicht voll ausgelebt werden können. Eigene Erwartungshaltungen hinterfragen und auf Echtheit prüfen hilft dabei, sich und auch den Partner zu entstressen. Das ist natürlich nicht leicht. Aber es lohnt sich. Denn nicht nur für uns Eltern ist es maximal anstrengend, wenn Individual- und Kollektivbedürfnisse kollidieren, sondern auch für unsere Kinder, die in diesem Spannungsfeld leben und lernen.
Einen gemeinsamen Umgang mit diesem Thema zu finden, ist wohl eine der größten und verantwortungsvollsten Aufgaben, die Eltern meistern (dürfen). Sich kurzzeitig Unterstützung suchen, um gute Wege zu gestalten und kreative Lösungen zu finden, ist absolut sinnvoll und zeitgemäß. Denn es gibt eine Gefühlserkennungs- und Bewältigungskompetenz, es gibt eine Verständigungs- und eine Veränderungskompetenz, um ein paar Urmenschenqualitäten im Jargon des 21. Jahrhunderts zu erwähnen.
Quellen:
– Biologische Verhaltensforschung am Menschen (Berlin [Ost] 1982)
– H. Behrens, Verhaltensforschung und Urgeschichtsforschung — Die Urgeschichtsforschung als Nutznießer der Verhaltensforschung. In: V. Johst (Hrsg.)
– www.scinexx.de/news/geowissen/neandertaler-waren-kinderfreundlich
Über Mia:
Mein Name ist Mia Bruckmayer (39), systemische Individual-, Paar- und Familientherapeutin mit eigener Praxis im Chiemgau. Wie wir werden wer wir sind ist mein berufliches Interesse und mein persönlicher Weg, die Welt und mich besser zu verstehen. In meinen Gastbeiträgen leuchte ich mit der Taschenlampe in das Paar- und Familienleben. Ich teile mit Euch meine familientherapeutischen Einsichten und Erfahrungen aus der eigenen Praxis.
Habt ihr Fragen an Mia? Oder eine Situation, in der sie euch vielleicht helfen könnte? Im Forum könnt ihr eure Anliegen rund um Kommunikation & Krisen in Familie oder Paarbeziehung mit Mia besprechen.
Fotocredits: Sept Commercial via Unsplash